Das Neue und die Monotonie in der wissenschaftlichen Veröffentlichung


Von Wolfgang Coy

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Auch die wissenschaftliche Arbeit in Hochschulen und Akademien ist Teil der kapitalistisch geprägten industriellen Gesellschaft und den immer deutlicher werdenden postindustriellen Arbeitsweisen. Obwohl die Arbeit an europäischen Universitäten in wesentlichen Aspekten, nämlich Forschung und Lehre, über 600 Jahre im Kern stabile Formen entwickelt hat und seit Jahrhunderten die zünftige Handwerkstradition im kleinen Gruppen nachahmt, ist sie doch von ihren gesellschaftlichen Wechselwirkungen geprägt. Trotzdem unterscheidet sich wissenschaftliches Arbeiten von der Vielfalt menschlicher Tätigkeiten in einigen wesentlichen Aspekten. Selbstverständlich ist auch die wissenschaftliche Arbeit, wie nahezu alle anderen Arbeitszusammenhänge durch Formen von Konkurrenz und Kooperation bestimmt, aber Wissenschaft ist ähnlich wie Kunst und Literatur in weitaus geringerem Maße als ihre Umgebung von Verwertungszwängen beengt. Dies lässt sich mit den besonderen Gründungs- und Unterhaltsbedingungen der Universitäten und Akademie erklären. Frühe Universitäten sind traditionell öffentliche Einrichtungen, entstanden aus immer wieder konfligierenden Interessen von Kirche und Herrschaftshäusern. Es mag kein Zufall sein, dass der Begriff der Natio in diesen frühen Universitäten die Herkunft der Studierenden als Gruppenmerkmal beschrieb und erst später in die politische Sprache der modernen ›Nationalstaaten‹ überging.

Wissenschaft diente vor allem der Ausbildung regionaler Kader: Mediziner und Juristen. Konfliktbereich war über Jahrhunderte die Sonderstellung der Theologen: zwischen regionaler Herrschaft mit vielfältigen Aufgaben in den Gemeinden und römisch-katholischer Zentralaufsicht. Wissenschaftliche Forschung war primär der Bildung und Weiterbildung der Lehrenden vorbehalten. Dabei haben sich spezifische Geltungsansprüche herausgebildet. Wissenschaftliche Erkenntnis soll neu und gesichert sein. Ist dies erfüllt, geht in neue Erkenntnis in den Bestand der alten über, ein konfliktträchtiger Prozess. Um diesen Prozess zu stabilisieren, hat sich in den Wissenschaften eine Vorstellung gesicherter wissenschaftlicher Korrektheit oder wissenschaftlicher Wahrheit etabliert. Diese wird in Austausch- und Diskussionsprozessen gewonnen.1

Wahrheit hat als Wahrhaftigkeit eine theologische Dimension, in der dem Wahrheit beanspruchenden Subjekt eine innere moralische Dimension abverlangt wird. Ganz anders ist die juristische Wahrheitsfindung zu verstehen, nämlich als Ergebnis eines formalisierten Diskussionsprozesses. Dabei spielt Wahrhaftigkeit eher eine demonstrative Rolle – ihre Einschätzung und Überprüfung ist dem Gericht überlassen. In der Medizin dominiert (noch immer) als Leitfaden „Wer heilt, hat Recht“ – heutzutage unterstützt mit nicht immer unproblematischen statistischen Aussagen.2

Der Wahrheitsbegriff hat in der Phase der Aufklärung eine rationalistische Wende erfahren, die die Position der Wissenschaften in der Gesellschaft erheblich gestärkt hat. Auch die industrielle Entwicklung hat mit dem Anspruch der technischen und organisatorischen Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen weitere Präzisierung bewirkt. Immanuel Kant hat die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen und ihre Wahrheitsansprüche in einer fast satirisch anmutenden Schrift „Der Streit der Fakultäten“ sehr schön dargestellt.3

Ein starker, freilich stark formalisierter wissenschaftlicher Wahrheitsbegriff entwickelt sich am Rande der Philosophie, in der Naturphilosophie, die wir heute Naturwissenschaften nennen und in ihrem ideologischen Fundament, der Mathematik.

Die Mathematik, die Kant keiner besonderen Erwähnung in seinen hochschulpolitischen Überlegungen wert war, basiert seit Euklid auf der spezifischen Form des axiomatischen Kalküls. In seinem Lehrbuch zur Geometrie schuf er ausgehend von voneinander unabhängigen „evidenten” Axiomen und Postulaten, nebst logischen Beweisfiguren, ein Lehrgebäude, das bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein in (englischen) Schulen als Lehrbuch diente. Die Unabhängigkeit des Euklidischen Parallelenpostulats war dabei stets umstritten. Dies löste sich erst im 19. Jahrhundert auf, so dass wir heute auch nicht-euklidische Geometrie anerkennen.

Die mathematischen Beweistechniken wurden in dieser Zeit zum Vorbild aller Natur- und Technikwissenschaft – bis hin zur Franz Reuleauxs Axiomatisierung der Maschinenlehre. Dabei führen sie einen grundsätzlich neuen Begriff der Wahrheit als des Beweisbaren (oder Evidenten) ein. Er ist nicht von der persönlichen Einstellung des Entdeckers abhängig, sondern ein formaler Begriff der Wahrheit.4 Wichtiger ist aber: Wird ein Theorem bewiesen, also logisch in einem widerspruchsfreien Kalkül abgeleitet, so kann es nicht mehr „zurückgenommen” werden – sofern der Beweis fehlerfrei ist. Logische Wahrheit ist derart „monoton”. Mit den Versuchen, immer größere Teile der Wissenschaften zu mathematisieren, wird in dieser Sicht wissenschaftliche Erkenntnis monoton.

Monoton heißt nun freilich nicht, dass es keinen weiteren Fortschritt über neue bewiesene Theoreme hinaus geben kann. Letztlich gibt es unterschiedliche Kalküle, mit denen Theorien starten. In der Mathematik ist dies freilich eine randständige Erscheinung. Bekannt ist der Grundlagenstreit zwischen Formalisten und Intuitionisten um L. E. J. Brouwer herum. Er beruht auf zwei unterschiedlichen Mengen von Beweisregeln, wobei die Formalisten eine mehr zulassen, nämlich das Tertium non datur. So betrachtet ist aus formalistischer Sicht die intuitionistische Mathematik eine Teilmenge der formalistisch verstandenen – historisch hat der Streit zwischen den handelnden Personen freilich weitere Dimensionen, auch politische.5

Spannender scheint mir der Wechsel von Themen und Objektbereichen oder von Sichtweisen, die Thomas S. Kuhn folgend gern Paradigmen der Erkenntnis genannt werden. Zum einen gibt es im wissenschaftlichen Alltag immer schon allmähliche, sanft verlaufende Interessensverlagerungen und Interessenserweiterungen. Hier greift die Monotonie nur bedingt: Das Alte gilt weiterhin, wird aber durch die Neugier auf Neues anderen Sichtweisen unterworfen. Zum anderen, und das bricht dann ein restriktives Verständnis von Monotonie wissenschaftlicher Erkenntnis, gibt es harte, wie jetzt gern gesagt wird disruptive Prozesse der Interessensverlagerungen und -erweiterungen. Die nicht-euklidische Geometrie stellt ein solches Beispiel. Vor Lobatschewski und Bolyai hatte höchstens Gauss die Vorstellung, es gäbe eine andere Geometrie der Fläche oder des Raumes als die von Euklid beschriebene. Nach deren Entdeckung war die euklidische Geometrie nur noch ein Spezialfall. Die mathematische Physik hat nicht-euklidische Theorien rasch integriert – nicht ohne innerwissenschaftliche Auseinandersetzung. Ähnliches gilt für die Newtonsche Axiomatiserung der Physik. Einsteins Relativitätstheorie erzeugte einen radikalen Bruch, dessen Verarbeitung länger dauerte. Ähnlich radikal wirkten die Experimente zur Quantenphysik. Monotonie ist also keine Versicherung gegenüber neuen Paradigmen.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse sind bedeutende Kennzeichen kulturellen Zuwachses6, aber sie sind in industriellen und post-industriellen Gesellschaften auch verwertbar. Der besondere Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis sperrt sich freilich gegen eine Abschottung der einzelnen Forschungsaktivitäten. Erst indem sie breit kommuniziert werden, entfalten sie ihre Wirkung. Auch wenn die Einzelleistung von Forscherinnen und Forscher in einem Klima der Konkurrenz eine zusätzliche Anstrengung fördert, sind es doch individuelle Erkenntnisleistungen, die erst auf einem breiten Fundament eines kooperativ geteilten allgemeinen Erkenntnisstands möglich werden. Dieser allgemeine Erkenntnisstand, unbehindert durch regionale und nationale Schranken, erlaubt die enorme Beschleunigung des globalen Wissensstandes, den wir als breite kulturelle Basis nutzen und der für die industrielle und post-industrielle Produktion zu einem wesentlichen Wachstumsfaktor geworden ist. Zwar sorgt dies keineswegs zu gleichen Ausgangsbedingungen überall auf der Welt, aber die Anpassung unterschiedlicher ökonomischer Ausgangslagen wird durch den weltweiten Austausch von Forschungsergebnissen nicht nur gefördert, sondern beschleunigt. Die Technikgeschichte belegt dies von der initialen Rolle Englands über den Aufstieg der europäischen und nordamerikanischen Industrie bis zum enormen Produktionsanstieg Chinas in den letzten Jahrzehnten. Umgekehrt kann die Einschränkung wissenschaftlich-technischen Austauschs allgemeinen Fortschritt behindern. Der Kalte Krieg hat dies am Beispiel der Mikroelektronik und der Netztechnologien zum Nachteil der betroffenen Bevölkerungen sehr deutlich gezeigt.7

Dass eine bessere Ausbildung einen allgemeinen, lokalen wie globalen Nutzen besitzt, ist eine Erkenntnis, die schon von den mittelalterlichen Universitäten genutzt wurde – nicht zuletzt, weil der Standort der Hochschulen auch eine lokale ökonomische Zugkraft entfaltete. Um die lokal stattfindende Lehre zu fördern, war es freilich insgesamt nützlich, den lokalen Erkenntnisstand an die weltweit verfügbaren Ressourcen anzupassen. Dies war kein selbstverständlicher und kein einseitiger Prozess. So dauerte es Jahrhunderte, bis die auf das griechische Erbe zurückreichenden mathematischen, philosophischen und naturphilosophischen Kenntnisse über arabisch-islamische Umwege ihre Wege über Spanien und Italien in das Europa der frühen Renaissance fanden und diese beschleunigten oder sogar erst ermöglichten. Und sie trafen auf wenig vorbereitetes Gelände. Das Briefnetz der frühen Humanisten mit dem zentralen Knoten Erasmus von Rotterdam, einem nicht ganz linientreuen katholischen Priester, selber Sohn eines Priesters, der alleine etwa 2000 lange Briefe an wissenschaftliche Freunde schickte, war ein Vehikel der europäischen Renaissance und diente der Verbreitung der verschütteten antiken Traditionen. Sein immer wiederkehrender Aufruf an die Briefpartner lautete in vielen Varianten: „Kannst Du inzwischen griechische Texte lesen?“

Das Briefnetz wurde zum wesentlichen technischen Beschleuniger der Kommunikation, ebenso der Buchdruck. Von Erasmus wurden rund 150 Bücher gedruckt, darunter ein auf griechische Urtexte zurückgehendes Neues Testament. Wenig später wurde Luthers8 deutschsprachige Bibel gedruckt. Auch dessen alltägliches reformatorisches Wirken zur gleichen Zeit beruhte in erheblichem Maß auf Guttenbergs Erfindung, dem System ‚Satz-Druck-Vertrieb’. Die gelehrten Schulen passten ihr Ausbildungsprogramm zügig an die neue Technik der Vervielfältigung an. Anderthalb Jahrhunderte später wurden die humanistischen Briefnetze in die neu entstehenden Akademien überführt, darunter die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften mit ihrem kosmopolitischen Planer und Gründungspräsidenten Gottfried Wilhelm Leibniz9. Selbstredend blieb die Finanzierung von wissenschaftlichen Einrichtungen, ob Universitäten, Akademien oder anderen Forschungseinrichtungen, problematisch. Die Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse sollte freilich nach allen Möglichkeiten davon unbelastet bleiben – schließlich war dies neben der Lehre das Hauptelement ihres Marketings. Zeitschriften und Bücher benötigten allerdings unvermeidliche Druck- und Vertriebskosten. Die Produktion der Inhalte war freilich Teil der eigentlichen Forschungsarbeit, die nicht von den Lesern finanziert werden sollte. Hier herrschte die Vorstellung eines gerechten Austauschs, wobei die Münze der Reputation von ihren Trägern finanziert wurde. Der Wissenschaftshistoriker Robert K. Merton brachte es in seinem Aufsatz Science and Technology in a Democratic Order10 auf den Punkt: „Communism, in the nontechnical and extended sense of common ownership of goods, is a second integral element of the scientific ethos. The substantive findings of science are a product of social collaboration and are assigned to the community. They constitute a common heritage in which the equity of the individual producer is severely limited. An eponymous law or theory does not enter into the exclusive possession of the discoverer and his heirs, nor do the mores bestow upon them special rights of use and disposition. Property rights in science are whittled down to a bare minimum by the rationale of the scientific ethic. The scientist’s claim to ‚his’ intellectual ‚property is limited to that of recognition and esteem which, if the institution functions with a modicum of efficiency, is roughly commensurate with the significance of the increments brought to the common fund of knowledge.

Während gedruckte Zeitschriften und Bücher mit unhintergehbaren Herstellungskosten jenseits der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit belastet sind, fallen mit der ubiquitären Nutzung von Rechnern, Datenspeichern und Netzen diese Kosten nicht mehr ins Gewicht. Sie werden in den wissenschaftlichen Organisationen als Infrastruktur verbucht – und nicht zuletzt an den Endknoten des Zugriffs bei den Nutzern häufig privatisiert. Das Internet wirkt hier „disruptiv“. Freilich geht dieser Bruch, wie jeder technisch induzierte Wandel, nicht ohne Verluste ab, die gern und fleißig beklagt werden, aber letztlich mit der Zeit überwunden oder vergessen werden.11 Das Internet hat die technischen Produktionsbedingungen radikal verändert: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.”12

Dies könnte ein bedeutsamer Höhepunkt technischen Erfolges sein: Wissenschaft wird breiter und einfacher verfügbar auf Grund des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.

„Könnte” – wenn die neue Technik nicht mit alten Rechtsformen und ökonomischen Interessen kollidierte. In den Weg gelegt werden der neuen Technik Patente, Lizenzen, Urheberrechte – und Gebrauchsmusterschutz, Markenrechte und weiteres. Jeder dieser Aspekte müsste im Detail behandelt werden, denn sie sind jeweils verschiedene Felder der Auseinandersetzung. Für Wissenschaft und Forschung sind sie traditionell Hindernisse, selbst wenn die Universitäten sich seit einiger Zeit auch über Patente finanzieren wollen.

Eine besonders heikle Front besteht am Urheberrecht. Die privatwirtschaftliche Verbreitung öffentlich finanzierter Forschungsergebnisse verfolgt erst einmal ein gemeinsames Interesse, nämlich diese Erkenntnisse außerhalb der Forschungsorganisation verfügbar zu machen. Soweit die Kostenfrage geklärt ist, ist dies eine einverständliche Aufgabe. Wo die Kosten zu einem Hindernis werden, das nicht länger die Produzenten, sondern die Verwerter regeln, wird dies schnell zum Zankapfel. Wenn es um die dauerhafte Nutzung und Bewahrung geht, verabschieden sich die Verwerter schnell – manchmal absichtsvoll, um den Kosten zu entgehen, manchmal unfreiwillig, weil sie den Besitzer wechseln oder einfach verschwinden.

Historisch gab es eine Fülle von Zeitschriften und Verlagen im Besitz der Forschungseinrichtungen. In den letzten Jahrzehnten wurde diese immer stärker von Verlagen übernommen oder verdrängt, die ihrerseits in immer größeren Medienverbünden aufgehen. Eine ursprünglich vielleicht vorhandene Neigung zu Forschung, Lehre und Bildung löst sich dabei sichtbar auf. Universitäten müssen darauf reagieren. Eine wirksame Gegenmaßnahme ist mit den Initiativen zur selbstständigen Veröffentlichung verbunden. Freier Zugang über Internet und Open Access kann eine wirksame Maßnahme zur Rückgewinnung des öffentlichen Raums wissenschaftlicher Publikation sein. In der Berliner Erklärung13 von 2003 wird diese Open-Access-Strategie offensiv aufgegriffen. Sie hat breite Zustimmung in der Wissenschaft erfahren.14 Inzwischen gibt es rund zehntausend wissenschaftliche Zeitschriften, die Open-Access-Modellen folgen.15 In den verschiedenen wissenschaftlichen Teilbereichen wird dies freilich sehr unterschiedlich wahrgenommen.

Ein eigentümlicher Aspekt bremst die schrankenlose Offenlegung wissenschaftlicher Ergebnisse – jedenfalls für einige Zeit. Die Produzenten wissenschaftlicher Erkenntnis sind ja trotz aller Aufrufe, Diskurs, Experiment und Beweis sei frei von persönlichen Interessen umzusetzen, nicht mit höheren moralischen Fähigkeiten ausgestattet als die übrige Bevölkerung. Robert Merton betont in seinem 1942 erschienenen Aufsatz: „Science, as is the case with the professions in general, includes disinterestedness as a basic institutional element. Disinterestedness is not to be equated with altruism nor interested action with egoism. Such equivalences confuse institutional and motivational levels of analysis. A passion for knowledge, idle curiosity, altruistic concern with the benefit of humanity, and a host of other special motives have been attributed to the scientist. The quest for distinctive motives appears to have been misdirected. It is rather a distinctive pattern of institutional control of a wide range of motives which characterizes the behavior of scientists. For once the institution enjoins disinterested activity, it is to the interest of scientists to conform on pain of sanctions and, insofar as the norm has been internalized, on pain of psychological conflict.” Es ist also die Kontrolle, die lenkend wirkt, nicht besondere moralische Ansprüche. Zum Eigeninteresse der Wissenschaftler gehört der Wunsch, als originär anerkannt zu werden, nicht nur wegen des damit verbundenen selbstbezogenen Genie-Verdachts (wenn er auch gelegentlich durchschimmert), sondern eng verbunden mit der Anforderung auf berufliche Anerkennung und Förderung. Der Kontext wissenschaftlichen Arbeitens fordert ständig die Bestätigung besonderer, möglichst originärer persönlicher Leistung. Dies formt den Prozess wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Zum einen muss öffentlich verbreitet werden, welch bedeutende Erkenntnis und Leistung vorliegt, zum anderen muss der besondere persönliche Anspruch der erstmaligen Urheberschaft belegt und erhalten werden. Ein Eiertanz, der von der Umgebung der Veröffentlichung abhängt. Peer Reviews und der untadelige Anspruch einer hinter dem Produzenten stehenden Organisation können solche Ansprüche herausstellen und besiegeln. Bei der besonderen Qualifikation mittels Dissertationsschriften ist dies sehr formell geregelt, aber Zeitschriften und Bücher können dies gleichfalls (mit feinen Abstufungen) zum Ausdruck bringen. Beim Übergang vom papier- und verlagsgebundenen Publizieren zur elektronisch-vernetzten digitalen Produktion müssen solche Kontexte organisatorisch und konstitutionell reproduziert oder ersetzt und erhalten bleiben. Open-Access-Zeitschriften, aber auch edoc-Server16 oder die LOCKSS-Initiative17 belegen und unterstützen solche Transformationen – schrittweise und allmählich.

Nicht alle Wissenschaft ist öffentlich oder auch bloß veröffentlichbar. Zwei riesige Komplexe bleiben weiterhin undurchsichtig oder gar ganz verschlossen: Industrielle und kommerzielle Forschung einerseits und Militärforschung andererseits. Beide Bereiche profitieren von den Traditionen öffentlicher Forschung, geben aber nur wenig zurück. Doch so ganz verschlossen sind die Bereiche nicht, denn Kommunikation und Austausch sind auch in diesen Bereichen wertvoll. So sind erhebliche militärisch finanzierte Entwicklungs- und Forschungsleistungen zum Internet in die breite Anwendung übergegangen – durchaus begleitet von kritischen Kommentaren konservativer amerikanischer Politiker, die bei Gelegenheit auch finanzielle Kürzungen durchsetzen. Aber das ARPANet wurde zu einem Vorläufer des Internets – ohne, dass jemand die Folgen vorhersehen konnte. Offenheit birgt halt Überraschungen.

Trotz alledem verlaufen die Hauptströmungen wissenschaftlicher Forschung in der Kombination von Forschung und Lehre, also an den Hochschulen. Deren Einheit ist der Kern der Humboldtschen Bildungsreform, die bei aller Kritik im Detail seit zweihundert Jahren erfolgreich umgesetzt wird. Universitäten sollen deshalb öffentliche Infrastruktur bleiben.

Da sich aber immer wieder verwertbare Aspekte ergeben, gibt es Begehrlichkeiten, diese Teile der Infrastruktur privat zu verwerten. Selbstverständlich können Verlage und andere Medienunternehmen eine wertvolle Unterstützung bei der Verbreitung und Bewahrung wissenschaftlicher Erkenntnisse leisten – insbesondere wo staatliche und öffentliche Unterstützung schwach ist. Das hat sich über Jahrhunderte bewährt. Aber: Die privatwirtschaftliche Steuerung ist auch ein enormer Schwachpunkt. Niemand kann von Verlagshäusern erwarten oder gar verlangen, dass sie die Bewahrung des kulturellen Erbes als Primärziel verfolgen. Diese Aufgabe wird zurück in die Öffentlichkeit gespiegelt – an Bibliotheken, Museen oder Archive. Und in diesem Kreislauf öffentlich initiierter und finanzierter Forschung sind damit privatwirtschaftliche Interessenten eingebunden, deren Leitungen sich immer öfter als Kaufleute zu erkennen geben, wobei sie ihre Rolle bei Bedarf gern etwas überhöhen. Es ist ja kein Zufall, dass die angelsächsische Tradition nicht den emphatischen Begriff der Urheberschaft als Ausgangspunkt versteht, sondern das Copyright, das Recht des Druckers (der auch noch als Zensor fungierte). Die Erzeugung und Bewahrung kultureller Ergebnisse ist jedoch eine öffentliche Infrastrukturaufgabe, die im gemeinsamen Interesse weder von Druckern noch von Kaufleuten oder Medienhäusern gesteuert werden darf. Privatwirtschaftliche Lenkungen und Verwertung repräsentieren das öffentliche Interesse nicht oder höchstens als Abfallprodukt. Auch wo die unmittelbar Beteiligten guten Willens sind, können und werden sie nicht alle Aufgaben einer öffentlichen Infrastruktur betreuen – schon gar nicht die langfristigen Aufgaben der Bewahrung des kulturellen Erbes. Die erfolgreiche Tradition der „Einheit von Forschung und Lehre“ verlangt weiterhin den Ausbau und den Erhalt der Infrastrukturen zum Schutz öffentlicher Forschung und Bildung. Universitäten sind Ausdruck dieser Gemeinschaftsaufgabe. Auch wenn die Anwendungsorientierung von Forschung und Ausbildung mit der Industrialisierung und Jahrzehnten des Übergangs zu einer postindustriellen Gesellschaft ständig gewachsen ist, darf die Kernaufgabe nicht vernachlässigt werden. Wissenschaft und Forschung sind gesellschaftlich, politisch und ökonomisch ein besonderer Sektor, der besondere Regeln verlangt: Von der Finanzierung der Organisation und der Beschäftigten bis zu den Verfahren der Veröffentlichung und des Zugriffs auf veröffentlichte Erkenntnisse.

Völlig hoffnungslos ist die Entwicklung nicht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Tradition der Berliner Erklärung von 2003 fortgeführt und unterstützt die internationale Open Access 2020 Initiative „that aims to induce the swift, smooth and scholarly-oriented transformation of today’s scholarly journals from subscription to open access publishing”18. Mit einem solchen Impuls hat sich sogar die Schweizer Rektorenkonferenz „Swissuniversities“ in ihrer Plenarversammlung am 31.1.2017 auf eine „Nationale Open-Access-Strategie für die Schweiz“19 geeinigt, wonach bis 2024 „in der Schweiz mit öffentlichen Mitteln finanzierte Publikationen öffentlich und kostenfrei zugänglich sein“ sollen. Mit dem gemeinsamen Ruf „Exzellenz beinhaltet Offenheit20 sollen universitäre Aktivitäten gefördert, zusammengelegt und koordiniert werden und zielgerichtete Verhandlungen mit Verlagshäusern gefördert werden.

Peter, der Kampf geht weiter!

1 Auch die Verweigerung solcher Prozesse kann beobachtet werden.

2 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, 1798. Vgl. http://nbn-resolving.de/urn=urn:nbn:de:gbv:9-g-1198828. Der Kern von Kants Argumentation ist der Hinweis auf den Wahrheitsbegriff als Kriterium der Wissenschaftlichkeit – nicht ein etwaiger Nutzen. Wilhelm v. Humboldt wird dies in seiner „Denkschrift über die äußere und innere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ von 1809/10 aufgreifen. Vgl. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:11-100104119

3 Dass der Königsberger Rektor dabei den drei klassischen Fächern Theologie, Medizin und die Juristerei einen Platzverweis erteilt und die Philosophie als zentrale Wissenschaft etablieren will, belegt einen starken, wenngleich folgenlosen hochschulpolitisches Willen – Schicksal mancher Hochschulleitungen.

4 Soweit die Evidenzen akzeptiert werden.

5 In der mathematischen Praxis spielt dies heute wohl keine bedeutende Rolle mehr – der Grundlagenstreit ist weitgehend aufgegeben, freilich nicht beigelegt. Ein kleiner Reflex mag noch in Turins Erkenntnis der Unlösbarkeit des Halteproblems zu finden sein. Oder in der Theoretischen Informatik; vgl. R. L. Constable and M. J. O’Donnel. A Programming Logic, Winthrop, Cambridge, 1978.

6 “If I have seen farther it is by standing on the shoulders of giants” sagt Isaac Newton. Robert K. Merton, hat in seinem 1965 erschienenen Büchlein On the Shoulders of Giants: A Shandean Postscript. Free Press. darauf hingewiesen, dass diese Grunderkenntnis wissenschaftlicher Forschung wohl auf Bernard de Chartres zurückgeht.

7 Die Neigung solche Restriktionen als Waffen einzusetzen, ist unter Politikern entsprechend hoch – zum Schaden der importierenden wie der exportierenden Industrien.

8 Luther war Briefpartner des Erasmus. Der Kontakt brach freilich nach einigen heftigen öffentlichen Polemiken ab. Wie Luther Erasmus (ein-)schätzte geht aus seiner posthumen Bemerkung: „Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig.“ hervor. Zu Erasmus’ Verteidigung, die er nicht wirklich braucht, sei nebenbei bemerkt, dass seine Schriften vom Konzil von Trient in die erste Ausgabe des Index Librorum Prohibitorum (dem Index der gefährlichen und verdächtigen Bücher) aufgenommen wurde. Für katholische Priester auch in späteren Jahren eine seltene Ehre.

9 Die sich in ersten hundert Jahren selbstständig finanzieren musste – gestützt auf ein kurfürstlich-brandenburgisches Monopol zum Verkauf von Kalendern.

10 Robert K. Merton, The normative structure of science. In: Merton, The Sociology of Science, Chicago & London: Chicago University Press: 1973. Der zitierte Aufsatz wurde zuerst 1942 publiziert unter dem Titel „Science and Technology in a Democratic Order.”

11 Es ziemt sich nicht, dass ich hier diese Kontroversen ausbreite oder gar vertiefe.

12 Dies will Goethe am Abend des 19.9.1792 bei der Kanonade von Valmy gesagt haben. So erinnert er sich jedenfalls fast 30 Jahre später laut seiner Kampagne in Frankreich (verfasst 1819–1822).

14 und auch ein paar launische Bemerkungen von aufgeschreckten Literaturwissenschaftlern, Literaten und Verlagen.

16 z.B. der edoc-Server der Humboldt-Universität. https://edoc-info.hu-berlin.de/de

17 Lots of copies keep stuff save. https://www.lockss.org

18 https://oa2020.org/