Blick zurück und her. Ein Gruß aus Adlershof


Von Ben Kaden

Es ist bemerkenswert, wie es sich ganz ungeplant ergab, dass ich Peter Schirmbacher in seinen Rollen sowohl als Hochschullehrer wie auch als Leiter des CMS der Humboldt-Universität zweimal höchst knapp verpassen sollte. Das erste Mal, als er an das gerade wieder einmal gesicherte Institut für Bibliothekswissenschaft berufen wurde, das als Gegenleistung zu seinem Bestand eine Verpflichtung zur Neuausrichtung erhalten hatte, zur der ganz offensichtlich die Professur für Peter Schirmbacher gehörte. In dieser Zeit beendete ich gerade meine Tätigkeit als studentischer Mitarbeiter bei Professur Umstätter. In gewisser Weise war ich buchstäblich ein freier Mitarbeiter gewesen, denn als Anhänger wissenschaftlicher Selbstentfaltung ließ mich Professor Umstätter gewähren und meine Arbeitsfelder mehr oder weniger selbst suchen. Gesucht hatte ich mir die Außendarstellung des Instituts in Form der Webseite und das Bespielen des ib.weblogs, das im Zuge der Freiräume durch die massiven und universitätsweiten Proteste des Wintersemesters 2003/04 den Studierenden des Instituts entstanden war.

Beides wurde betreut, erst vorsichtig mit neugieriger Naivität, dann immer mehr expandierend mit Gestaltungswillen und auch dem trotzigen Stolz, wurzelnd in der Wahrnehmung Teil einer denkbar marginalisierten akademischen Disziplin zu sein, die zu diesem Zeitpunkt, so regelmäßige Berichte, weitgehend am Bedarf des Arbeitsmarktes vorbei ausbildete. Am vorläufigen Ende und auch heute als Verbindung zurück in diese Zeit stand die Gründung der Zeitschrift LIBREAS im Jahr 2005, das, soweit ich mich erinnere, auch das Jahr war, in dem Peter Schirmbacher eine spürbare Präsenz am IB übernahm.

Die Koinzidenz ist insofern bemerkenswert, weil sich in LIBREAS etwas fing, was sehr nah bei den Herzensthemen von Peter Schirmbacher lag, nämlich die Ideen des elektronischen Publizierens und des Open Access. Ich kann nicht rekonstruieren, wie viel wir dazu bereits aus dem CMS davon gehört hatten. In den Lehrplänen des IB war das digitale Publizieren zu diesem Zeitpunkt noch der Auseinandersetzung mit Datenbanken und Onlinerecherchen nachgeordnet. Es gab schon elektronische Zeitschriften in der Library and Information Science, aber vielleicht nahm man hierzulande auch an, dass man, wie man damals manchmal noch dachte, die USA sowieso zehn Jahre Vorsprung in allem haben, noch ein paar Jahre Zeit hatte, um auch aus das deutsche Zeitschriftenwesen auf digital umzustellen. Außerdem gab es noch eine Bibliothek ganz oben in der Dorotheenstraße 26, die alles, was man für das Studium brauchte, gedruckt vorhielt. Digitale Bibliotheken waren Lehrstoff, insbesondere bei Professor Umstätter, aber nichts, das sich empirisch aufdrängte.

Dennoch gründeten wir LIBREAS als elektronische Open-Access-Zeitschrift und auf der einen Seite sicher auch deshalb, weil wir gar keine andere Wahl hatten. Auf der anderen Seite jedoch konnten wir trotz allem dem Stempel der Richtung, die die Berliner Erklärung auch in die Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität notwendig hineindrückte, nicht entgehen, wenn man sich nur ein wenig für das Digitale interessierte. Und das war unsere Sache und die meinige schon allein, weil ich die Webseite des damals noch IBs erstaunlicherweise als Spielwiese überlassen bekommen hatte und, unter freundlicher Anleitung des informatisch deutlich beschlageneren Kommilitonen Jakob Voß, gerade den „semiotischen Thesaurus der Bibliothekswissenschaft“ in XML umschrieb.

Die erste Begegnung mit Peter Schirmbacher ernüchterte mich allerdings, weil er jede Spielerei jenseits der Domäne des Lehrstuhls von Professor Umstätter freundlich und schnell beendete und nachdrücklich eine Umstellung auf die Designvorgaben der Humboldt-Universität durchsetzte. So schmollend ich nach der Sitzung in die Saur-Bibliothek zurückkehrte, so richtig war dieser Schritt in der Rückschau.

Peter Schirmbacher betrat die Bühne des Instituts im genau passenden Moment, um den Überschwang und die Aktivitäten der Studierenden meiner Generation und der danach einzufangen und in nachhaltige Bahnen umzulenken. Das zeigte sich auch deshalb als außerordentlich notwendig, weil die aufbruchswilligen zukünftigen Magister des Wintersemesters 2003/04 Richtung 2006 und also der Antrittsvorlesung des neuen Professors, langsam den Studienabschlüssen entgegen gingen und nachfolgende Bachelor- und Masterstudierende unausweichlich in strafferen Strukturen zu studieren hatten.

Die hochengagierten und dabei teils doch ziemlich anarchischen und ungeordneten Gestaltungsaktivitäten hatten ihren Zweck erfüllt, hatten den Raum für eine wichtige Reform der Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität eröffnet und diesem galt es nun, eine funktionierende Fassung zu geben. Peter Schirmbacher mit seiner langen Kenntnis und hohen Kommunikations- und Navigationskompetenz innerhalb des Organisationsgefüges der Humboldt-Universität erwies sich damit als außerordentlich wichtige Ergänzung zum aus den USA berufenen Professor Michael Seadle, der im Gegenzug eine Internationalisierung des Instituts, unter anderem zu einer iSchool, erreichte. Blickt man auf diese Jahre zurück, ist es schon erstaunlich, wie glücklich sich alles fügte. Es hätte für das Institut und für die Berliner Bibliothekswissenschaft auch ganz anders enden können. Hatten die Studierenden und Lehrenden der frühen 2000-er Jahre dem Fach ein Rettungsboot gezimmert und den schlimmsten Sturm gesteuert, führte es Peter Schirmbacher, um im Bild zu bleiben, schließlich mit ruhiger und bestimmter Hand in einen sicheren Hafen. Das kann man ihm nicht genug anerkennen.

Gleiches verdient er für die Unterstützung von LIBREAS. So wenig er, und zwar aus seiner Position heraus völlig berechtigt, die höchst spontane Ausgestaltung der Webpräsenz schätzte, die zeitgleich aus anderen Gründen in andere, nicht weniger fürsorgliche Hände, nämlich die von Maxi Kindling und Matti Stöhr übergangen war, so aufgeschlossen und vielleicht sogar angetan zeigte er sich gegenüber der Zeitschrift, die sich bald auch auf dem edoc-Server zweitveröffentlicht finden sollte. Das war vielleicht der zentrale Schnittpunkt, der sich zwischen mir und Peter Schirmbacher wirklich konkretisierte. Denn da ich zum Zeitpunkt seiner offiziellen Berufung bereits an meiner Magisterarbeit schrieb, verpasste ich leider den Hochschullehrer Peter Schirmbacher. Vor Augen steht mir jedoch eine hitzige Debatte zur Neugestaltung der kommenden Curricula, in der der hochgeschätzte Kommilitone Christof Capellaro seiner Sorge Ausdruck verlieh, das Fach könnte zu einer zweiten Informatik umprogrammiert werden. Die hatte er übrigens nicht allein. Peter Schirmbacher nahm diese Sorge außerordentlich ernst, sich viel Zeit und echtes Verständnis und auch wenn es vielleicht nicht in dieser Diskussionsrunde gelang, so vermochte er doch recht bald und bewundernswert besonnen solche Befürchtungen zu zerstreuen. Aber auch hier saß ich selbst mehr als Beobachter denn als Betroffener in einer zweiten Reihe und in Gedanken mit der Sorge befasst, was an dem Morgen nach dem Abschluss warten wird.

Erstaunlich ist nun, dass ich heute diese Zeilen dort schreibe, wo Peter Schirmbacher so lange wirkte und führte, nämlich im Erwin-Schrödinger-Zentrum in Berlin-Adlershof und zwar im Büro eines Vorhabens, das er noch maßgeblich auf den Weg gebracht hat. Ich habe ihn ein weiteres Mal verpasst. Jedoch verankerten mich die heute oft kaum vorhersagbaren beruflichen Entwicklungen dessen, was früher einmal der akademische Mittelbau war, in einem Projekt namens eDissPlus, das die Brücke darstellt zu einem Feld des elektronischen Publizierens, das Peter Schirmbacher voraussah, dessen Gestaltung nun aber in den Händen anderer liegt. Nach der Durchsetzung des elektronischen Publizierens der klassischen wissenschaftlichen Publikationsformen – insbesondere der Zeitschriften und der Hochschulschriften – steht als neue Publikationsform die der Forschungsdaten im Raum, unter anderem auch für die offene Wissenschaft bzw. Open Science, die sich aus der Open-Access-Idee entfaltet. Lange in Laborbüchern und auf Wechseldatenträgern abgelegt, erkennt man mittlerweile sehr deutlich, welches Potential in offenen, in nachnutzbaren oder zumindest recherchier- und einsehbaren Forschungsdaten liegt und zwar nicht nur aus der volkswirtschaftlich hochrelevanten Perspektive einer zu vermindernden Doppelarbeit. Man erkennt zunehmend bewusster, wie sehr in vielen Bereichen Daten erhebende, erschließende, strukturierende und verfügbarmachende Aktivitäten genauso Herzstück wissenschaftlicher Arbeit sind, wie es das Verfassen von Aufsätzen ist. Und ebenfalls zunehmend will man diese auch expliziter wissenschaftlich anerkannt bekommen. Und schließlich wird deutlich, dass eine komplexe und an vielen Stellen sehr stark digitalisierte und datafizierte Wissenschaft ihr Kriterium der Nachvollziehbarkeit kaum mehr über knappe Beschreibungen absichern kann, sondern zwangsläufig differenziertere Publikationsmöglichkeiten sicher auch im Feld der Algorithmen, der Datenaufbereitung und auch jeweiliger Auswahl- und Filterentscheidungen sowohl der Methode als auch dem Werkzeug und dem Forschungsmaterial benötigt. Die zusätzliche Publikation von Forschungsdaten und Forschungsdatendokumentationen ist dabei nur der Auftakt. Gerade der Aspekt der Dokumentation, nach 2000 in der Bibliothekswissenschaft doch sehr aus dem Blick geraten, könnte tatsächlich eine Renaissance erleben.

Die informatischen Aspekte, Sorge vieler Bibliothekswissenschaftsstudenten um 2006 und zentrales Zukunftsversprechen vieler Digital Humanists und Big-Data-Euphoriker wenige Jahre darauf, sind 2017 handhabbare Mittel zum Zweck und nicht etwa vorherrschend sondern bestenfalls auf Augenhöhe mit den traditionellen Aufgaben der Bibliothekswissenschaft und der Dokumentation, nämlich erstens dem Zusammenführen (und Verknüpfen), zweitens dem für eine Auffindbarkeit Erschließen und drittens dem für die Zielgruppen passenden Vermitteln digitaler Publikationsobjekte. Aus der Perspektive meiner aktuellen Aktivitäten ist es vielmehr so, dass die Informatik in diesem Bereich den Zwecken der Bibliotheken und Bibliothekswissenschaft zuarbeitet. Ich glaube, dass dies auch der Botschaft entspricht, die Peter Schirmbacher mit ans Institut brachte und mit der ich mich heute deutlich stärker identifizieren kann als damals. Ob bzw. wann publizierte digitale Forschungsdaten wirklich das nächste große Thema werden, vermag ich heute schwer abzuschätzen und umso weniger, je intensiver ich mich damit befasse. Zugleich werden die neuen Komplexitäten der digitalen Wissenschaft überall spürbar. Es gibt viele unbekannte Faktoren in diesem Feld, zu denen sich viele Hürden nicht zuletzt in verschiedenen rechtlichen Bereichen und bei der technischen Stabilität addieren. Die Systeme der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Kommunikation müssen dafür Lösungen finden. Am Ende bleiben es die Menschen, konkreter die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die als Zielgruppen, als Produzenten und als Kommunizierende an die Bibliotheken zurückspiegeln, welche Formen des Publizierens und des Verfügbarhaltens für sie sinnvoll und notwendig sind. Die Bibliothekswissenschaft ist in diese Aushandlungen eingebunden und als wissenschaftliche Disziplin in der Pflicht, Strömungen, Bedarfe und Möglichkeiten aufzunehmen, zu verstehen und Angebote zur Deutung und auch für Dienste der Bibliotheken zu machen. Projekte wie eDissPlus arbeiten an dieser Schnittstelle. Als Mitarbeiter des Projektes und als Bibliothekswissenschaftler habe ich darin meine Aufgabe und auch eine berufliche Erfüllung. Peter Schirmbacher ist nicht der Projektleiter von eDissPlus, aber mit Vorbereitung des Projektes und mittels seiner langjährigen Gestaltung dieser Forschungsagenda nicht nur an der Humboldt-Universität, sondern in der gesamten Infrastrukturforschung legte er die Grundlagen dafür, dass ich jetzt und hier in diesem Bereich arbeiten und forschen kann. Er ist also, obwohl er nicht hier ist, doch präsent. Und ich denke, er wird es noch lange bleiben.

Berlin, 02. Februar 2017