Bleibende Spuren – wie ich Peter Schirmbacher erlebte


Von Uwe Müller

Mein Weg mit Peter Schirmbacher begann am 3. März 1998 um 10 Uhr, als ich mit Neugier und weichen Knien am schwarz lackierten Besprechungstisch des Zimmers 1060 im Hauptgebäude der Uni Platz genommen habe. Es ist das Büro des Rechenzentrumsdirektors, und ich war dorthin zu einem Vorstellungsgespräch für die Stelle einer studentischen Hilfskraft eingeladen worden. Das Aufgabengebiet war in der knappen Stellenausschreibung mit vier Punkten umschrieben: „Verwaltung (Aufbau und Wartung) des Dokumentenservers, Programmierung von Datenbank-Web-Schnittstellen, Beratung der Promovenden bei der Dokumentenerstellung, Umsetzung von elektronischen Dokumenten nach HTML/SGML“.

Das Thema Elektronisches Publizierens fand ich damals zwar einerseits irgendwie spannend. Konkrete Vorstellungen, worauf es dabei ankäme und was bei der praktischen Umsetzung zu beachten wäre, hatte ich aber kaum. Und so musste mir Peter Schirmbacher so manche recht tragfähige Brücke bauen, um das Gespräch einigermaßen am Laufen zu halten (Zitierfähigkeit? Dokumentenvorlagen? Langzeitarchivierung?). Dennoch hat er mir nicht das Gefühl gegeben, gänzlich unwissend zu sein, und ich wurde dann auch für die Stelle genommen – genauer: für eine Hälfte davon, denn ich teilte mir die eigentlich vorgesehenen 80 Monatsstunden mit einem Kommilitonen. Und so begann ich am 1. April 1998 meinen ersten Job bei Peter Schirmbacher – als studentischer Mitarbeiter im Rechenzentrum der HU.

Es sollte nicht der letzte bleiben. Insgesamt wurden es genau 13 Jahre, in denen ich in unterschiedlichen Konstellationen für ihn tätig war – eine Zeit, auf die ich vor allem dankbar zurückblicke und in der ich die Vielfalt und die Erfolge seines Wirkens erleben konnte. Denn das Projekt „Elektronisches Publizieren von Dissertationen der Humboldt-Universität zu Berlin“, für das ich eingestellt wurde, war nur der Anfang einer überaus stattlichen Reihe von Projekten und Aktivitäten auf diesem Feld und angrenzenden Gebieten, die durch Peter Schirmbacher und unter seiner Anleitung initiiert und durchgeführt wurden. Mit diesem ersten drittmittelfinanzierten Vorhaben – es wurde im Rahmen des so genannten Hochschulsonderpakts III (HSP III) gefördert – hatte Peter Schirmbacher den Grundstein für ein sehr ergiebiges Forschungs- und Arbeitsgebiet unter seiner Federführung gelegt, das später mit der Arbeitsgruppe „Elektronisches Publizieren“ als gemeinsamer Organisationseinheit von Universitätsbibliothek und Rechenzentrum und noch später mit dem Lehrstuhl für Informationsmanagement am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft auch einen formalen Rahmen bekommen sollte.

Doch zunächst war die Projektgruppe, die sich an der Humboldt-Universität um den Aufbau des Dokumentenservers kümmerte, recht überschaubar. Sie bestand neben Peter Schirmbacher und Norbert Martin, dem stellvertretenden UB-Direktor, aus Susanne Dobratz, der Projektverantwortlichen, sowie vier studentischen Mitarbeitern und traf sich immer freitags von 14 bis 16 Uhr im Raum 1064a, dem so genannten Demoraum des Rechenzentrums. Dessen modernes und zu diesem Zeitpunkt in deutschen Hochschulen seinesgleichen suchendes Interieur (das mit der hinter einklappbaren Schranktüren verborgenen Rückprojektionsfläche bei mir Assoziationen an ein futuristisches Lagezentrum weckte) steht sinnbildlich dafür, dass Peter Schirmbacher der Zukunft immer ein ganzes Stück voraus war.

So verhielt es sich auch mit dem Vorhaben, die Online-Veröffentlichung von Dissertationsschriften als eine weitere Möglichkeit zu etablieren, der Publikationspflicht nachzukommen, die für Promovierende nach erfolgreicher Disputation oder Verteidigung gewöhnlich noch zwischen ihnen und der Verleihung der Doktorwürde lauert. Der Akademische Senat der Universität tat sich alles andere als leicht damit, die elektronische Fassung (der ja immerhin noch vier gedruckte Exemplare an die Seite gestellt wurden) den traditionellen Veröffentlichungsarten gleichzustellen – etwa einer zünftigen Verlagspublikation oder der Einreichung teils mehrerer hundert Papierexemplare bei der Universitätsbibliothek. Als das höchste universitäre Leitungsgremium nach wiederholter Befassung und auf Drängen Peter Schirmbachers und Norbert Martins diese Regelung beschloss, dürfte die Humboldt-Universität dennoch die erste deutsche Hochschule gewesen sein, die diesen Veröffentlichungsweg erlaubte: Zum 1. Mai 1998 setzte der AS ein zentral gültiges Addendum für alle Promotionsordnungen der Universität als „fachübergreifende Verfahrensregel“ in Kraft, für die ja eigentlich die Fakultäten die Regelungshoheit besitzen.

Eine ähnliche – wenn auch diesmal nicht ganz so exponierte – Vorreiterrolle nahm die Universität auch in Sachen Open Access ein, als sie acht Jahre später, im Mai 2006, eine eigene Open-Access-Erklärung verabschiedete. Freilich war auch dieses Vorreiten kein Selbstläufer im Akademischen Senat, der den Beschluss letztlich fasste. Vielmehr hat die Humboldt-Universität ihr offizielles Bekenntnis zur freien Verfügbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse wiederum der Beharrlichkeit vor allem einer ihrer Mitarbeiter zu verdanken – Peter Schirmbacher. In seiner Funktion als Sprecher der Deutschen Initiative für Netzwerkinformation (DINI) hatte er bereits im Jahre 2003 zu den Erstunterzeichnern der Berlin Declaration on Open Access to Knowledge in the Sciences and Humanities gehört, die auch der Humboldt’schen Open-Access-Erklärung zugrunde liegt.

Als Open Access zum offiziellen Ziel universitären Handelns erhoben wurde, war Peter Schirmbacher inzwischen zum Professor für Informationsmanagement am IBI bestellt worden (wo auch ich als sein wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Aufbau des neuen Lehr- und Forschungsgebiets mitwirken durfte) und bekleidete damit fortan zwei überaus arbeitsintensive Jobs an der Uni. Durch die Einrichtung der Professur wurde die Neuorientierung des gerade vor der Schließung bewahrten Instituts eingeleitet, die es bis heute prägt.

Zuvor wäre er der Humboldt-Universität allerdings beinahe ganz abhandengekommen. Denn im Jahr 2005 erhielt Peter Schirmbacher einen Ruf auf die Professur für IT-Management an die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die damals ebenfalls mit der Leitung des dortigen Rechenzentrums verbunden war. Ich weiß noch, wie sehr er damals mit sich gerungen hat – um die Entscheidung zu gehen oder zu bleiben. Eine ganze Zeit schien es so, als hätte er gedanklich die Koffer schon gepackt, um nach 15 Jahren RZ- bzw. CMS-Leitung noch mal einen Neuanfang zu wagen. Die Möglichkeit, auch in Berlin einen Lehrstuhl aufbauen zu können und damit der anwendungsorientierten Forschung, die er ja bereits seit vielen Jahren betrieb, ein adäquates Dach zu bieten, und die theoretischen und praktischen Erkenntnisse auch an die Studierenden weitergeben zu können, hat wohl den Ausschlag fürs Bleiben gegeben – trotz der Verlockungen auf eine deutlich bessere Ausstattung in Düsseldorf.

Die Anzahl der Projekte, für die Peter Schirmbacher im Lauf seines langjährigen Wirkens Mittel bei der DFG, dem BMBF, der EU und auch innerhalb der HU eingeworben hat, ist Legion – nicht nur auf dem Feld des elektronischen Publizierens, sondern auch auf dem Gebiet der multimedialen Unterstützung der universitären Lehre, das ihm sehr am Herzen lag, und in den Bereichen Langzeitarchivierung, Forschungsdaten und IT-Sicherheit.

Dasselbe lässt sich für sein Engagement in Fachverbänden und Gremien und für sein Wirken in Wissenschaft und Fachöffentlichkeit sagen. 1999 beantragte er erfolgreich ein DFG-Projekt zum Aufbau von DINI. 2001 holte er die europäische Konferenz für universitäre Informationssysteme EUNIS nach Berlin. 2003 konnte er gemeinsam mit Ed Fox die erste ETD, die internationale Fachkonferenz für elektronische Dissertationen, außerhalb der USA eröffnen und weihte damit gleichzeitig das neu errichtete Erwin-Schrödinger-Zentrum auf dem Campus Adlershof ein, an dessen Konzeption er ebenfalls maßgeblich beteiligt war.

An der Humboldt-Universität hat Peter Schirmbacher weit über die Grenzen von CMS und IBI strukturbildend gewirkt. So ging die Etablierung eines CIO-Gremiums („Leitungsgruppe Informationsprozesse“) auf seine Initiative zurück, deren Vorsitzender er sieben Jahre lang war. Das auf sein Betreiben hin seit dem Jahr 2000 aufgelegte universitätsweite Multimedia-Förderprogramm (heute „Förderprogramm Digitale Medien in Forschung, Lehre und Studium“) hat viele innovative Projekte vor allem im Bereich E-Learning unterstützt. Natürlich ging er selbst mit gutem Beispiel voran und stellte die Aufzeichnungen seiner Vorlesungen am IBI als Screencasts online zur Verfügung – und stellte in den mündlichen Prüfungen dann immer wieder erstaunt fest, wie wortgetreu ihn die Studentinnen und Studenten wiedergeben konnten.

Auch wenn er seine Aktivitäten in Forschung und Lehre, seinen unmittelbaren Einsatz für die Entwicklung von Informationsinfrastrukturen nun etwas verringert (so ganz mag ich mir den bedingungslosen Ruhestand bei ihm noch nicht vorstellen), werden seine Spuren noch lange sichtbar bleiben und wird sein Einfluss noch lange nachwirken. Das liegt an dem großen Wirkungskreis, den er entfaltet hat, und an dem immensen Netzwerk, das er aufgebaut und gepflegt hat. Das liegt aber auch an den vielen Studierenden und nicht zuletzt an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den zahllosen Projekten, die er geprägt hat. Sie tragen – da bin ich mir sicher – ein Stück von Peter Schirmbacher in sich und geben es weiter.

 

Lieber Peter!

Die erfolgreiche Umsetzung deiner vielen, oft visionären Ideen wäre ohne deine absolute Zielstrebigkeit und deine Selbstdisziplin kaum vorstellbar gewesen. Deine hohen Ansprüche hast du dabei natürlich auch als Maßstab an deine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angelegt und ihnen viel abverlangt. Das war manchmal ganz schön anstrengend, und zuweilen blieb das Gefühl, deinen Erwartungen am Ende doch nicht so ganz gerecht geworden zu sein. Aber du hast es eigentlich immer verstanden, den Funken deiner eigenen Begeisterung für die Sache auf andere überspringen zu lassen, in ihnen Motivation zu wecken und sie auf deine forschen Wege mitzunehmen. Du hast uns vieles ausprobieren lassen und dir immer wieder auch unseren Rat geholt. Die Jahre, die ich unter deiner Ägide am CMS und am IBI gearbeitet habe, waren für mich nicht nur überaus lehrreich. Die Zusammenarbeit mit dir hat auch – fast immer! – viel Freude gemacht (sonst wäre ich sicherlich auch nicht so lange geblieben). Dafür will ich dir ganz herzlich danken! Und für das Leben als Ruheständler wünsche ich dir viel Freude und alles Gute!

Uwe Müller